Digitalisierung – Befindet sich der deutsche Mittelstand am Scheideweg?

Nur noch eine Aufholjagd könne den verlorenen Boden wiedergutmachen. Das sagen Experten zum Stand der Digitalisierung in Deutschlands Mittelstand. Zuletzt preschte die FDP mit ihrem Vorsitzenden Christian Lindner vor, um ihr 6S-Modell zu präsentieren. „Speed, Skills, Security, Start-ups, Science, Services“. Werden wir schon von autonom steuernden Wagenflotten überrollt, die Taxifahrer und Zusteller beim Transport von Personen und Waren ablösen, bevor sich der Mittelstand aus der diagnostizierten Schockstarre angesichts der Digitalisierung gelöst hat? Welche Rolle bei der Digitalisierung der Wirtschaft kann die Politik überhaupt spielen? Welchen Teil der Verantwortung für ein Gelingen der Transformation tragen die Unternehmen selbst, wenn es darum geht, die Herausforderungen der Digitalisierung anzunehmen und bei den anstehenden Veränderungen zu bestehen?

Allgemeiner Stand der Digitalisierung in Deutschland im Vergleich

99,6 Prozent aller Unternehmen in Deutschland mit mehr als 10 und weniger als 250 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz, der unter 50 Millionen Euro im Jahr liegt, gehören zum Mittelstand. Der Mittelstand stellt also das Rückgrat der deutschen Wirtschaft dar. Fast die Hälfte aller Arbeitnehmer ist in mittelständischen Betrieben beschäftigt. Der Bundesverband der Industrie (BDI) und die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften haben 2017 einen Innovationsindikator erstellt. Insgesamt rangiert Deutschland international auf Platz 4. Stark zeigt sich vor allem die Schweiz. Singapur rangiert ebenfalls weit vorne, was vor allem an den enormen staatlichen Investitionen liegt. Auf Platz 3 des Rankings liegt Belgien. In die Bewertung floss dabei auch ein Digitalisierungsindikator ein, bei dem Deutschland im internationalen Vergleich schlecht abschneidet. Besonders die Digitalisierung in den Bereichen Wirtschaft, Forschung/Technologie, Bildung und Infrastruktur ist schlecht ausgeprägt, da nur verhältnismäßig selten Softwarelösungen oder Cloud-Computing in der Industrie, an Hochschulen oder in der Verwaltung Anwendung finden. Länder wie Israel, Finnland, die USA oder Australien liegen hier deutlich vorne. Nur im Bereich „Digitalisierung der Gesellschaft“ schneidet Deutschland akzeptabel ab und überholt sogar die USA, da vergleichsweise viele Menschen privat über einen Internetzugang verfügen und diesen zu nutzen wissen. Potential für eine Digitalisierung der Restbereiche ist also in der deutschen Gesellschaft gegeben.

Digitalisierung im Mittelstand – Fehlt nur das schnelle Internet?

Schon heute erfolgt in wohl jedem Einrichtungshaus eine Küchenplanung mittels entsprechender Software. Handwerksbetriebe nutzen Maschinen, die über Softwareprogramme gesteuert fräsen, sägen oder Material prüfen. Einige Unternehmen, die bereits stark digitalisiert arbeiten, können unter keinen Umständen riskieren, dass es zu Unterbrechungen in der Netzinfrastruktur kommt, ohne dass die gesamte Fertigungskette zum Erliegen kommt. Kann auf die digitalisiert gesteuerten Systeme nicht zugegriffen werden, ist das entweder nachteilig oder sogar katastrophal. Unternehmen, die international einem zunehmend harten Konkurrenzkampf ausgesetzt sind, brauchen einen verlässlichen Zugang zu schnellen Netzen. Nicht alleine die Breitbandversorgung, auch die flächendeckende Abdeckung mit einem schnellen Mobilfunknetz ist für die deutsche Wirtschaft im weiteren Verlauf der Digitalisierung absolut notwendig. Der Breitbandatlas des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur zeigt deutlich, dass gerade der alpine Raum südlich von Freiburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern unterversorgt sind. Die Durchdringung Deutschlands mit dem Glasfasernetz ist im internationalen Vergleich erschreckend gering. In Korea greifen fast alle an das Internet angeschlossenen Haushalte über Glasfaserkabel auf das Internet zu. In Deutschland sind es lediglich 2 Prozent. Die Bundesregierung hatte sich zum Ziel gesetzt, bis 2018 alle Haushalte mit einer Bandbreite von 50 Mbit/s zu versorgen und hat dieses Ziel verfehlt. Dass Providerbündnisse den Netzausbau alleine vorantreiben, scheitert zurzeit noch am Widerstand der Telekom, die mit 455.000 km über das am weitesten ausgebaute Netz verfügt. Vodafone und 1&1 Versatel rangieren nach eigenen Angaben mit 58.000 km und 41.000 km weit dahinter. In Verbänden wie dem Bundesverband Breitbandkommunikation e.V. und dem Bundesverband Glasfaseranschluss (Buglas) e.V. ringen die Verbände schon lange um Vorfinanzierungsmittel durch die Bundesregierung und werfen ihr vor, die Telekom bei Ausbau des eigenen Netzes zu privilegieren. Schätzungsweise würde ein landesweiter, flächendeckender Ausbau des Glasfasernetzes in Deutschland circa 80 Milliarden Euro kosten. Zugleich sollte der Tatsache Rechnung getragen werden, dass viele mittelständische Unternehmen das Internet nicht einmal insoweit nutzen, als dass sie damit auf das eigene Angebot aufmerksam machen oder für sich werben. Der Monitoring-Report von tns-infratest zeigt, dass im Handwerk überhaupt nur 56 Prozent aller Betriebe einen eigenen Internetauftritt haben. Im Dienstleistungsbereich haben zwar 81 Prozent der Unternehmen eine eigene Webseite, nur 40 Prozent aller Betriebe nutzt aber für Unternehmenszwecke ein Smartphone. Bevor also nur nach dem Staat gerufen wird, sollte jedes Unternehmen prüfen, ob es selber den Anforderungen der Digitalisierung schon genügt und was im eigenen Betrieb noch zu tun ist, bevor eine Datenübertragung von über 300 Mbit/s für alle Unternehmenszwecke zur Verfügung steht. Dazu bietet eStep Mittelstand, ein vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie initiiertes Forschungsprojekt eine Selbstevaluierungsmöglichkeit für Unternehmen des Mittelstands.

Die Herausforderungen der Transformation

    Einige konkrete Herausforderungen bei der Digitalisierung sind für den Mittelstand:
  • Verwendung digitaler Techniken, um just-in-time, also ohne hohe Lagerbestände zu erzeugen und in direkter Reaktion auf die aktuelle Nachfragesituation am Markt produzieren zu können
  • Schnellere Kommunikation zwischen Planung und Produktion, Partnern und Zulieferern, um die Produktionsprozesse zu verbessern
  • Sensorgesteuerte Produktverfolgungen, um den Kundenservice oder notwendige Wartungsarbeiten zu optimieren
  • Datenmanagement der gesammelten Erfahrungswerte aus dem Customer Relationship Management (CRM), zur Optimierung der Kundenbeziehung, auch unter Einbeziehung von Daten aus den sozialen Netzwerken
  • (nachträgliche) Qualifizierung des Personals zum Umgang mit allen notwendigen digitalen Techniken

Qualifiziertes Personal muss die Transformation mittragen können

Im Bereich der Personalentwicklung teilen sich die Verantwortlichkeiten. Fehlt es an der staatlichen Mitwirkung, wird die Wirtschaft allein die Aufgabe nicht übernehmen können, geeignetes Personal für die Unternehmen ausbilden und später in wichtigen Funktionen im IT-Bereich beschäftigen zu können. Hier ist die staatliche Förderung von Bildungseinrichtungen essenziell. Alleine im IT-Bereich fehlen zurzeit 50.000 Stellen. Unternehmen können ihr Personal zwar fortbilden und eng mit Hochschulen kooperieren, um so zum Beispiel über duale Ausbildungsangebote eine direkte Verbindung zwischen qualifizierten Akademikern und dem eigenen Unternehmen herzustellen und diese als zukünftige Mitarbeiter direkt abzuholen. Eine entsprechende Vorbildung durch die Schulen und den Hochschulsektor sollte die Wirtschaft aber auch voraussetzen dürfen. Hier ist eindeutig der Staat gefragt.

Industrie 4.0. und Pflege 4.0 - Digitalisierung der Fabrik und zu Hause

Von Industrie 4.0 ist vor allem immer dann die Rede, wenn es um die Smart Factory der Zukunft geht. Einer Fabrik, in der Roboter und Menschen gemeinsam Teamarbeit leisten oder automatisierte Fahrassistenten Mitarbeiter mit Fertigungsteilen beliefern. Allerdings ist Industrie 4.0 nicht alleine auf den Bereich einer digitalisierten Fabrik zu reduzieren. Industrie 4.0 betrifft auch die Dienstleistungssektoren. In der Pflege 4.0 könnten Serviceroboter in Zukunft teilweise menschliche Pflegefachkräfte ersetzen und rund um die Uhr bei einem Pflegefall anwesend sein. Der Einsatz von derartigen Pflegerobotern und deren serienreife Produktion sind kurzfristig aber sicher noch nicht abzusehen. Medizinisch relevante Daten werden aber wohl schon in absehbarer Zukunft zunehmend mittels elektronischer Patientenakten dokumentiert. Auch hierzu existieren bereits mehrere standardisierte Softwarelösungen, aber noch verwenden 47 Prozent der Ärzte laut des Ärzteblattes weiter die herkömmliche, papierene Akte. Digitalisierte, medizinische Verfahren machen allerorten bereits eine stärker auf den Einzelfall abgestimmte Behandlung möglich, als das in der Vergangenheit der Fall war. Pflegedienste, die ihre Touren schon bald idealerweise softwaregesteuert planen und notwendige Dokumentation zeitsparend digital erledigen können, werden wieder den Dienst am Menschen in den Fokus nehmen und dadurch im Vergleich mit besserem Service punkten können. Die Entwicklung der Technologien im Bereich des Smart Home und der digitalen Steuerung aller Funktionen rund um den privaten Haushalt überschneidet sich mit den von mittelständischen Unternehmen geleisteten Diensten durch die ambulante Pflege. Unter Einbeziehung der bestehenden digitalen Technologien zu Hause kann die Pflege angepasst werden. So wird es möglich sein, dass alte Menschen länger in den eigenen vier Wänden leben und vielfach kann eine stationäre Pflege durch eine ambulante Pflege ersetzt werden.

Finanzierung der Digitalisierung

Investitionen in die Digitalisierung sind kostspielig. Legt man das hierzu ermittelte Gesamtinvestitionsvolumen für den Mittelstand von 40 Milliarden Euro auf die einzelnen Unternehmen um, ergeben sich schnell Hunderttausende von Euro, die jährlich in die Digitalisierung der Wirtschaft investiert werden müssten, wenn der deutsche Mittelstand nicht endgültig abgehängt werden soll. Umso problematischer ist es, dass Banken und Finanzwirtschaft ihrerseits in einem Umwälzungsprozess stecken. Statt mit einem klassischen Berater der Hausbank zu verhandeln, übernehmen zunehmend FinTech-Unternehmen automatisiert Finanzberatungen. Davon fühlen sich viele mittelständische Unternehmen bedroht. Oft wurden ihnen Kredite durch eine Hausbank nicht nur deswegen gewährt, weil diese die Notwendigkeit und den detaillierten Sinn und Zweck der Investition erkannt hatte, sondern auch, weil diese Hausbank ein lokal angesiedeltes Unternehmen schon lange betreute und eine entsprechende Vertrauensbasis entstanden war. Solche Hausbanken in ihrer klassischen Form reduzieren sich aber rasant. Die Kreditnehmer sind oft nicht mehr einzelne Unternehmen, sondern Joint Ventures, die miteinander vernetzt werden, um die durch die Digitalisierung anstehenden Investitionen gemeinsam zu tätigen und Technologien zu nutzen. Eine Einschätzung, in wieweit eine Investition für den Kapitalgeber kein Verlustgeschäft wird, wird also immer schwieriger und damit risikoreich. Bei der Finanzierung der Digitalisierung des Mittelstands ergibt sich eine Abkehr von starren Kreditgeschäften, die sich höchstens noch für Technik und Software eignen, hin zu flexibleren Modellen der Projektfinanzierung, des Leasing oder die Inanspruchnahme von Fördermitteln.

Einheitliche, rechtliche Rahmenbedingungen bei der Transformation der Wirtschaft

Umso wichtiger ist daher ein rechtlicher Rahmen, der auch internationale Allianzen aus Unternehmen möglich und finanzielle und juristische Verantwortlichkeiten überschaubar macht. Der Auswertung der Smart Data, der Evaluation von Stammdaten und Daten, die aus den Fertigungsprozessen und Arbeitsabläufen im Unternehmen selber gewonnen werden, wird eine zunehmend wichtige Rolle zuteil, damit die Herausforderung an die Wirtschaft in der Transformation gemeistert werden kann. Die Anpassung des Datenschutzgesetzes durch die EU-Datenschutz-Grundverordnung (EU-DSGVO) auf einen europaweit verpflichtenden Standard im Mai 2018 ist dabei ein wichtiger Schritt in die einzuschlagende Richtung. Insgesamt ist es notwendig, dass der Mittelstand sich der Herausforderung der Transformation stellt und eine jeweils passende Strategie entwickelt, wie das Unternehmen reagieren will. Sind Veränderungen an der Strukturierung des Unternehmens geplant, sollten dennoch immer Flexibilität und Effizienz bewiesen werden, ohne dass alternativlos ein einziges Konzept verfolgt wird. Zunächst sollte das eigene Unternehmen intern auf eine verlässlich etablierte digitale Infrastruktur zugreifen, bevor in einem nächsten Schritt Lieferanten und Kunden miteinbezogen werden. Die Selbstevaluierung von Zuständen und Prozessen innerhalb des Unternehmens sollte zu jeder Phase der Digitalisierung erfolgen. Bildquelle: stnazkul / 123RF Standard-Bild